Beschreibung und Einordnung Der 'Raub des Ganymed' war in der Renaissance ein beliebtes Kameenmotiv. Die Dramatik des Geschehens um den schönen Knaben, den der verliebte Zeus in Gestalt eines Adlers zu sich in den Olymp entführte (Ovid, Met. 10,155-161), konnte vorzüglich und komprimiert auf das kleine Format übertragen werden. In den großen fürstlichen Gemmensammlungen durfte diese Darstellung nicht fehlen. In der Kasseler Sammlung existieren zwei Versionen. Bei der hier besprochenen Kamee wird der nackte Ganymed von Jupiter in Gestalt eines Adlers mit ausgebreiteten Flügeln eindrucksvoll umfangen und über den Wolken emporgetragen. Die Arme des Ganymed liegen auf den Schwingen des Adlers, die Beine werden von den Krallen festgehalten, der Kopf des Adlers reckt sich stützend vor die Brust des Ganymed.
Das Ganymed-Thema existiert auf einer weiteren Kasseler Kamee (B XVI. Tab. B-IV-54). Die hier vorliegende Version ist ein kleineres Chalcedonexemplar (Lippold 1922, Taf. CXXXVIII.1 bzw. Cades 1836, Taf. 61, Nr. 7: signiert "IO" für Giovanni Bernardi da Castel Bolognese), das in ähnlicher Form in zahlreichen Museen existiert (beispielsweise in Neapel: Gasparri 1994, Nr. 59, Abb. 32 und in München: Weber 1992, Nr. 97). Das zweite Exemplar B XVI. Tab. B-IV-54 ist ein außergewöhnliches und kostbares Stück.
Der bei beiden Exemplaren verwendete Darstellungstypus geht auf eine Kreidezeichnung des Michelangelo (Frey 1909-1911, Bd. I, Taf. 8) zurück. Michelangelo schenkte im Jahre 1532 dieses Ganymed-Blatt und ein zweites Blatt mit Tityos seinem Schüler, dem jungen römischen Edelmann Tommaso Cavalieri, den er wegen seines geistigen Adels und seiner körperlichen Schönheit verehrte. Diese beiden Blätter gingen in Rom vielbewundert von Hand zu Hand (Kris 1929, S. 63ff.). Als sie Kardinal Ippolito de' Medici (gest. 1535) zu sehen bekam, ließ er von seinem Steinschneider Giovanni Bernardi dazu Kristallschnitte herstellen. Es kam noch ein drittes Blatt, der Sturz des Phaeton, hinzu (Donati 1989, S. 82, Taf. XVI).
Das Original Bernardis mit dem Raub des Ganymed scheint sich nicht erhalten zu haben. Es wurde vielfach kopiert und findet sich in Bronzen, Stichen, Gemälden, Zeichnungen und selbst Stickereien wieder. Bernardi gilt neben Valerio Belli als bedeutendster Steinschneider in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (R. Distelberger, in: AK Wien 2002, S. 77). In dieser Zeit war es bereits eine Gepflogenheit, Plaketten nach den Bergkristallintagli Valerio Bellis und Giovanni Bernardis (R. Distelberger, in: AK Wien 2002, S. 75) zu gießen (Bange 1922, Nr. 876, Taf. 74). Damit ist eine Überlieferung trotz des Verlusts vorhanden.
Stilistisch dem hier besprochenen Kameo am nächsten ist der Ganymed-Kameo in St. Petersburg (Kagan 1973, Nr. 30). Dieser zeigt eine immer wieder dargestellte Variante mit den unterhalb der Ganymedszene sitzenden, nach oben blickenden Hunden.
Stand: April 2006
Quellen Inventar Völkel 1791, Tab. VII. 51: "Ganymedes. Or. Achat."
Inventar Pinder 1873 (B XVI), B. Tab. IV. 51: "Ganymedes auf dem Adler. Achat."
Inventar Pinder 1882-1897 (B V), Tab. II. 46: "Ganymedes auf dem Adler. Achat."
Literatur unpubliziert
Vergleich Frey 1909-1911, Bd. I, Taf. 8; Bange 1922, Nr. 876, Taf. 74; Lippold 1922, Taf. 138, Nr. 1; Slomann 1926, S. 9ff.; Kris 1929, Nr. 236, 239, Taf. 57 u. S. 62-64; Kagan 1973, Nr. 30; Donati 1989, S. 82, Taf. XVI; Weber 1992, Nr. 97; Gasparri 1994, Nr. 59, Abb. 32; AK München 1995, S. 134, Abb. 5; R. Distelberger, in: AK Wien 2002, S. 75, 77
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